Rente
Automatische Anpassung
Wirtschaftsweise Grimm schlägt vor, die Rente an das Lebensalter zu koppeln. Sie stößt auf Widerstand. Dabei gehen andere Länder voran.
Politiker wissen: Die Rente ist ein heikles Thema. Das gilt vor allem für das gesetzliche Renteneintrittsalter. Wie emotional das Thema ist, zeigt die Vehemenz mit der hierzulande über die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 69 Jahre oder 70 Jahre diskutiert wird. In Frankreich sind Menschen wochenlang auf die Straßen gegangen, weil das Renteneintrittsalter auf ein im internationalen Vergleich recht niedriges Niveau von 64 Jahren angehoben werden sollte.
All das weiß die Wirtschaftsweise Veronica Grimm natürlich auch. Und so konnte sie sich schon auf die Reaktionen gefasst machen, als sie am Wochenende in einem Interview forderte, das Renteneintrittsalter in Deutschland künftig an die Lebenserwartung zu koppeln und auf diese Weise automatisch stetig steigen zu lassen. Nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung in der Bevölkerung zu, sollen Arbeitnehmer länger arbeiten; das ist der Kern ihres Vorschlags. Die Ökonomin, die in Nürnberg lehrt und forscht, hat konkrete Vorstellungen, wie das aussehen könnte.
„Das gesetzliche Renteneintrittsalter wird bis 2031 auf 67 Jahre erhöht. Dabei kann es aber nicht bleiben“, sagt die Ökonomin den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
„Die Formel in Zukunft könnte sein: Nimmt die Lebenserwartung um ein Jahr zu, so würden zwei Drittel des zusätzlichen Jahres der Erwerbsarbeit zugeschlagen und ein Drittel dem Ruhestand.“ Das würde bedeuten: Wenn die Lebenserwartung um ein Jahr steigt, würden acht Monate davon in Arbeit verbracht werden und nur vier im Ruhestand – eine für Arbeitnehmer wenig attraktive Vorstellung. Und so ließ die Kritik an dem Vorschlag nicht lange auf sich warten.
Aus CDU und FDP kam Kritik an dem Vorschlag, aber auch von Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD). Der Vorschlag sei „zutiefst ungerecht“, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst X (früher Twitter). Die ohnehin schon große Kluft zwischen Arm und Reich bei der Lebenserwartung sei in den vergangenen Jahrzehnten weiter gewachsen. Eine automatische Koppelung des Renteneintrittsalters an den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung wäre deshalb den Ärmeren gegenüber nicht fair.
Allerdings: Mit einem solchen Modell wäre Deutschland in Europa nicht allein. Derzeit haben neun EU-Länder das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt: Es sind Dänemark Estland, Finnland, Italien, die Niederlande, Portugal und die Slowakei. Zuletzt ist Schweden dazu gekommen. In Griechenland ist nur ein Bestandteil der gesetzlichen Rente an die Lebenserwartung gekoppelt.
In all diesen Ländern wird die durchschnittliche Lebenserwartung der 65-Jährigen in regelmäßigen Abständen überprüft. In der Regel findet der Check jährlich oder alle zwei Jahre statt. Die Anpassung des gesetzlichen Renteneintrittsalters findet in der Regel automatisch statt, lediglich in Dänemark muss die in einer Formel definierte Anhebung des Rentenalters jedes Mal vom Parlament bestätigt werden. Die Länder sind dabei unterschiedlich großzügig gegenüber Arbeitnehmern. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat die Unterschiede zuletzt 2021 untersucht. Dänemark, Estland, Griechenland und Italien sind dabei besonders streng: Für jedes zusätzliche Jahr Lebenserwartung steigt auch das Renteneintrittsalter um ein Jahr.
Das bedeutet, dass die zusätzliche Lebenszeit komplett für das Arbeitsleben genutzt werden muss. Die durchschnittliche Länge der Rentenperiode bleibt also konstant, aber der relative Anteil an der gesamten Lebenszeit sinkt dadurch. In Dänemark beispielsweise ist die durchschnittliche Rentendauer rechnerisch auf 14,5 Jahre gedeckelt. „Dass ein Jahr zusätzliche Lebenserwartung das gesetzliche Renteneintrittsalter um ein Jahr verschiebt, ist extrem“, sagt Hervé Boulhol, Rentenexperte bei der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). „In Dänemark wird deshalb gerade auch darüber diskutiert, ob diese Regel nicht zu hart ist.“
Andere Länder wie Finnland, die Niederlande und Portugal haben eine großzügigere Regelung. Dort gilt: Steigt die durchschnittliche Lebenserwartung der 65-Jährigen um ein Jahr, verlängert sich die Lebensarbeitszeit um acht Monate und die Rentenbezugsdauer um vier Monate. Das sieht es auch der Vorschlag der Wirtschaftsweisen Grimm für Deutschland vor.
„Wenn man alle Generationen fair behandeln will, ist das ein gutes Verhältnis“, sagt OECD-Rentenexperte Boulhol.
In Industrieländern sei es üblich, dass Arbeitnehmer zwei Drittel ihrer Lebenszeit als Erwachsene in Arbeit verbringen würden und ein Drittel in Rente. Und Deutschland? Auch das deutsche Rentensystem berücksichtigt die Lebenserwartung – allerdings nur begrenzt und indirekt über das zahlenmäßige Verhältnis von Versicherten zu Beitragszahlern. Die komplizierte Formel dafür, die allerlei Interessensgruppen berücksichtigt, füllt eine ganze DIN-A4-Seite. Internationale Organisationen wie die OECD und der Internationale Währungsfonds (IWF) empfehlen der Bundesregierung seit Langem, das Renteneintrittsalter auch direkt an die Lebenserwartung zu koppeln. Auch nationale Berater werden nicht müde, solch eine Reform einzufordern: Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium beispielsweise oder die sogenannten Wirtschaftsweisen, zu denen auch Veronika Grimm gehört. Im vergangenen Jahr erstellten Experten der Bundesbank eine Analyse zur langfristigen Finanzierung der Rente. Sie untersuchten auch, was eine Koppelung an die Lebensarbeitszeit bringen würde. Ihr Resümee: „Die Kopplung dämpft den Druck auf Beitragssatz und Bundeshaushalt spürbar“, heißt es in dem Papier. Und weiter: „Es erscheint insgesamt gut nachvollziehbar, dass etliche nationale und internationale Beratungsgremien Deutschland eine solche Ausgestaltung empfehlen.“
Die Koppelung des Renteneintrittsalters hat vor allem einen Vorteil: den Automatismus. Die delikate Entscheidung über das Renteneintrittsalter würde nicht mehr von Politikern oder Expertenkommissionen getroffen. Und Debatten wie über die Rente mit 69 oder 70 gäbe es nicht mehr. „Die Politik muss solch eine Änderung nur einmal durchsetzen, in den folgenden Jahren und Jahrzehnten laufen die Anpassungen des Renteneintrittsalters automatisch ab“, sagt Renten-Experte Karl Hinrichs von der Universität Bremen.
Zudem würde die Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung von Arbeitnehmern grundsätzlich als fairer wahrgenommen, als wenn eine Zahl wie 69 oder 70 diskutiert werde „Die Menschen wollen nicht bis 69 oder 70 arbeiten, weil sie glauben, sich damit schlechter zu stellen als ihre älteren Geschwister, Nachbarn oder Kollegen. Das liegt auch daran, dass Menschen ihre eigene Lebenserwartung häufig unterschätzen“, sagt Hinrichs. Wichtig sei allerdings, Arbeitsplätze so zu gestalten, dass Menschen auch länger arbeiten können.
Eine solche Koppelung bedeutet allerdings auch, dass das Rentenalter sinken kann. In Portugal wird das gesetzliche Rentenalter in diesem und im kommenden Jahr für die betroffenen Jahrgänge sogar sinken. Der Grund: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist wegen der Corona-Pandemie gesunken.
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